Über die Wichtigkeit der HRV bei Long Covid

HRV-Insight: Warum die HRV sogar bei Long COVID Entscheidendes leisten kann!

In unserer Schwerpunktreihe HRV-Insight behandelt und dokumentiert der CEO und medizinischer Leiter der Autonom Health GesundheitsbildungsGmbH Dr. med. Alfred Lohninger unterschiedliche HRV-Themen, darunter auch aktuelle HRV-Forschungsbereiche. In diesem Blogbeitrag wollen wir uns dem hochaktuellen Thema Long COVID widmen.
Wir haben uns eingehend mit der neuesten Forschung zum Thema Long COVID beschäftigt, stehen mit anerkannten Experten und Expertinnen zum Thema im Austausch und konnten durch „COVID-Messungen“ in unserer eigenen Datenbank höchst interessante Muster in der HRV erkennen. Im Folgenden möchten wir einen kurzen Abriss zum aktuellen Stand der Erkenntnisse liefern.
Die angeführten Aussagen zitieren aus den Deutschen und Österreichischen Leitlinien, verweisen auf die derzeit wichtigsten wissenschaftlichen Arbeiten und geben Einblick, welche Erklärungen zu Entstehung und Behandlung von Long COVID diskutiert werden.

WAS IST LONG BZW. POST COVID? 

Bis heute fehlt es an einer allgemein akzeptierten Definition von Long/Post Covid. Sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die CDC (Centers for Disease Control and Prevention) und das RKI stützen sich dabei auf den Vorschlag des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE).
Dieser besagt: Das Wesen der Erkrankung liegt darin, dass es – ähnlich wie bei anderen Infektionskrankheiten – nach einer SARS-CoV2-Infektion und nach Impfungen gegen den Erreger zu anhaltenden Beschwerden kommt.
Diese werden jenseits einer Zeitspanne von vier Wochen ab Infektion als Long COVID und bei Persistenz von mehr als zwölf Wochen als Post COVID-Syndrom bezeichnet.

 Gut microbiome-mediated regulation of neuroinflammation. Curr Opin Immunol. 2022 Apr 21;76:102177
Abb. 1: Juni 2022: Das Darm-Mikrobiom, das Bauchhirn, der Vagus scheinen eine wichtige Rolle zu spielen.
Quelle: Bostick, et al (2022). Gut microbiome-mediated regulation of neuroinflammation. Curr Opin Immunol. 2022 Apr 21;76:102177. doi: 10.1016/j.coi.2022.102177.

Ursachen

Die genauen Ursachen sind bislang nicht bekannt.
Die Persistenz des Virus bzw. der Verbleib von Bestandteilen des Virus im Körper kann eine Rolle spielen. Mögliche Mechanismen sind durch Covid 19 zerstörte Gewebestrukturen. Dazu zählen Schäden an der Innenauskleidung von Blutgefäßen und dadurch hervorgerufene Störungen von Durchblutung und Blutgerinnung, Fehlfunktionen des Immunsystems bis hin zu Autoimmunreaktionen, überschießende Entzündungsreaktionen, Störungen im Flüssigkeits- und Mineralstoffhaushalt und potentielle Nebenwirkungen der COVID-19-Therapie. Der Verbleib von Bestandteilen des Virus im Körper über Wochen und Monate kann eine wesentliche Rolle spielen.

WIE HÄUFIG TRITT LONG COVID AUF?

Das Robert Koch Institut (RKI) kommt nach dem Studium von 23 Übersichtsarbeiten, also von wissenschaftlichen Publikationen, die den aktuellen Stand der Forschung zusammenfassen, sowie von 102 Originalarbeiten, das sind Forschungsarbeiten mit dem Ziel, neue Erkenntnisse zu gewinnen, zu folgendem Schluss: Erwachsene, die nicht wegen Covid 19 im Krankenhaus behandelt werden mussten, litten zwischen 7,5% und 41% an Langzeitfolgen. Bei hospitalisierten Erwachsenen wurden bei 37,6% gesundheitliche Langzeitfolgen berichtet.

WIE VERLÄUFT DIE KRANKHEIT?

Eine gesicherte Rolle im Ablauf von Long COVID spielen offensichtlich alle drei Anteile des Autonomen Nervensystems, also der Sympathikus, der Parasympathikus sowie das enterische Nervensystem. Dabei entwickelt sich Dysautonomie als zentraler pathophysiologischer Mechanismus zum wichtigen Wegweiser für die Forschung:

Die Rolle des Autonomen Nervensystems bei Long COVID
Abb. 2: Die Rolle des Autonomen Nervensystems bei Long COVID. Verändert nach Illustration of the pathophysiological mechanisms underlying Post-COVID-19 syndrome. Aus: Julia Aranyo, et. al. „Inappropriate sinus tachycardia in post-COVID-19 syndrome“”. Quelle: Autonom Health
  • Das Virus führt zur DYSFUNKTION von Organen
  • Die Dysfunktion beeinflusst das Enterische-, das Parasympathische- und das Sympathische Nervensystem und führt zur DYSAUTONOMIE
  • Andauernde Dysautonomie führt zu ERSCHÖPFUNG oder ÜBERMÜDUNG
  • Angst, Verunsicherung, im Stich gelassen werden verstärken die DYSAUTONOMIE
  • Dysautonomie führt zu weiterer DYSREGULATION von Organfunktionen
  • Die Dysregulation von Organfunktionen und die Dysautonomie verursachen Long COVID SYMPTOME
  • Die Dysautonomie verändert die HERZRATENVARIABILITÄT

Diagnose

Die Diagnose eines Long/Post COVID-Syndroms kann weder durch eine einzelne Laboruntersuchung noch durch ein Panel an Laborwerten diagnostiziert bzw. objektiviert werden. Ebensowenig schließen normale Laborwerte ein Long/Post COVID-Syndrom nicht aus. Long COVID wird demnach im Eigentlichen klinisch diagnostiziert, also anhand von Symptomen.

Symptome

Man unterscheidet eine Vielzahl auftretender Symptome. Ein nicht unwesentlicher Teil der häufigsten ist eindeutig mit der HRV nachweisbar.
Diese sind:

  • 1. Leistungs- und Aktivitätseinschränkung im Sinne einer einer charakteristischen belastungsinduzierten Symptomverschlechterung
  • 2.Atemnot und Kurzatmigkeit (in Ruhe und bei Belastung)
  • 3. nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen
  • 4. verändertes Atemmuster
  • 5. Stress
  • 6. Tachykardie

Häufige Symptome, die nicht mit der HRV nachweisbar sind:

  • 7. Kopfschmerzen
  • 8. Geruchsverlust, Geruchsstörungen, Geschmacksveränderungen
  • 9. Husten
  • 10. depressive Verstimmung
  • 11. Angst
  • 12. Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung
  • 13. Schmerzen allgemeiner Art
  • 14. kognitive Einschränkungen
  • 15. Zwangshandlungen
  • 16. Haarausfall
HRV Spektrogramm Long Covid
Abb. 3: Ein 43-jähriger Patient, der während eines Spaziergangs und noch drei Stunden danach in einen massiven Erschöpfungszustand gerät. Bemerkenswert, im Unterschied zu einem Burnout ist der Schlaf sehr gut. Quelle: Autonom Health
Abb. 4: Die Darstellung des Atemfrequenz-Verlaufs im HRVmed-Analyseportal. Quelle: Autonom Health
Abb. 4: Die Darstellung des Atemfrequenz-Verlaufs im HRVmed-Analyseportal. Quelle: Autonom Health

Leitsymptom

Als häufigstes, bezeichnendestes und demnach als Leitsymptom geben Patientinnen und Patienten mit Long/Post COVID sehr häufig das Symptom „Fatigue“ an. Es tritt auch nach einer Vielzahl anderer Viruserkrankungen auf und wird als Chronisches Müdigkeitssyndrom bzw. als Chronisches Erschöpfungssyndrom bezeichnet. Dass die beiden Begriffe nicht synonym gebraucht werden sollen, ist allen, die der vegetativen Funktionsdiagnostik kundig sind, klar.

Erschöpfung kennzeichnet das völlige Wegbrechen autonomer Regulation, erkennbar am Rückgang der HRV in allen Frequenzbereichen um mehr als 85 Prozent gegenüber dem Tagesschnitt, bei gleichzeitig zu hoher Herzrate, über weite bis ganze Teile der Messung, u/o auch als Reiz inadäquater Rückgang, also bei relativ geringer Belastung. Gegensätzlich zum Burnout Syndrom treten die Erschöpfungszeichen bei Long COVID auch bei gutem bis sehr gutem Schlaf auf.

Müdigkeit hingegen muss als vegetativer Appell erkannt werden, mit Zunahme der HRV, v.a. im HF-Bereich, der pNN50, Auftreten von RSA tagsüber und  niedrigen Herzraten. Der Vagus schaltet sich ein, schaltet auf Ruhe, Resynchronisation von Atmung und Herzschlag, um damit möglichst viele, der allesamt in ganzzahlig zueinander selbstorganisiert rhythmisch interagierenden Abläufe in uns im wahrsten Sinn in Ordnung zu bringen, wie er das immer tut, um Entzündungsprozessen entgegenzuwirken. Ein überaus sinnvolles Phänomen, das seit 20 Jahren als Inflammatory Reflex wissenschaftlich prominent publiziert wird.

Die Rolle des Vagus bei Long COVID wird mit zunehmender Forschung immer größer. Er wird als Vehikel zum Einreisen von Virus(-bestandteilen) ins Gehirn erkannt, als bisweilen funktionell und sogar in seiner Struktur geschädigter Nerv, aber auch als überaktiviert bei von Long COVID Betroffenen. In dem, in der Literatur neuerdings aufgetretenen Begriff der Imbalance des Vagus, liegt möglicherweise ein Schlüssel für eine differenzierte Diagnostik, aber auch Therapie von Long COVID.

Abb. 5: Eine mögliche Rolle des Vagus bei Long COVID. Quelle: Dani, et al. Autonomic dysfunction in ‚long COVID‘: rationale, physiology and management strategies. Clin Med (Lond). 2021 Jan;21(1):e63-e67.doi: 10.7861/clinmed.2020-0896. Epub 2020 Nov 26.
Abb. 5: Eine mögliche Rolle des Vagus bei Long COVID. Quelle: Dani, et al. Autonomic dysfunction in ‚long COVID‘: rationale, physiology and management strategies. Clin Med (Lond). 2021 Jan;21(1):e63-e67.doi: 10.7861/clinmed.2020-0896. Epub 2020 Nov 26.

Parallelen zu Burnout

Ähnlich wie bei Burnout scheint es nämlich auch bei Long COVID zwei Formen zu geben: Eine klassische, bei der das Vegetativum in den „stand by-Modus“ schaltet und sowohl das ergotrope als auch das trophotrope System runterfährt. Das heißt, sowohl Sympathikus als auch Parasympathikus sind inaktiv und warten auf einen „Restart“, wie auch in der Literatur beschrieben:

Abb. 6: HRV, Dysautonomie und Long COVID. Quelle: Sha, et al (2022). Heart rate variability as a marker of cardiovascular dysautonomia in post-COVID-19 syndrome using artificial intelligence. Indian Pacing Electrophysiol J. Mar-Apr 2022;22(2):70-76. doi: 10.1016/j.ipej.2022.01.004. Epub 2022 Jan 29.
Abb. 7: Long COVID Patientin mit Indikatoren für Erschöpfung. Quelle: Autonom Health
Abb. 7: Long COVID Patientin mit Indikatoren für Erschöpfung. Quelle: Autonom Health

Die zweite Form wurzelt möglicherweise zum einen im „Inflammtory Reflex„.
Der von Kevin J. Tracey erstmals 2002 in der Fachzeitschrift „Nature“ beschriebene Mechanismus beruht auf Actylcholin, dem Überträgerstoff des Vagus als gegen Entzündungen – die es zweifelsfrei auch bei Long COVID immer gibt – gerichtetes Molekül.
Zum anderen besteht eine denkbare Korrelation zwischen der Tatsache, dass besonders viele Frauen und jüngere Menschen von Long COVID betroffen sind und der Tatsache, dass diese Personengruppen von Haus aus den höchsten Vagotonus aufweisen. Sowohl unsere Erfahrung als auch Publikationen beschreiben mitunter auch einen abnorm hohen Vagotonus bei Long COVID Patient*innen im Sinn einer Vagusstarre, die darauf abzielt, ein Milieu zur Ermöglichung von Selbstheilungs-Prozessen zu schaffen.

Ein Mechanismus, der darauf abzielt, das vorhandene vegetative Potential zur Eindämmung laufender Entzündungsprozesse zu nutzen.
Zahlreiche Symptome von Long COVID wie auch das plötzliche Auftreten hoher Herzraten bei geringsten Belastungen POTS (Posturales Orthostatisches Tachycardie Syndrom) lassen sich so erklären.

Abb. 8: HRV, unnatürlich hohe Parasympathikus-Dominanz und Long COVID Symptome. Quelle: Asarciklli, et al. Heart rate variability and cardiac autonomic functions in post-COVID period. J Interv Card Electrophysiol. 2022 Feb 1;1-7. doi: 10.1007/s10840-022-01138-8.

WARUM SIND SO VIELE JUNGE MENSCHEN BETROFFEN?

Für uns naheliegend ist auch, dass Long COVID generell – und wohl in dieser Form von Vagusüberaktivierung) – bei Jüngeren u.v.a. bei Frauen auftritt, da diese ja den höchsten Vagotonus aufweisen:

Abb. 9: Anteil der High Frequency Power der HRV bei 20- bis 60-jährigen Männern und Frauen. Quelle: Alfred Lohninger,Herzratenvariabilität: Das HRV-Praxislehrbuch, 2. überarbeitete Aufl. 2021, Seite 264
Abb. 9: Anteil der High Frequency Power der HRV bei 20- bis 60-jährigen Männern und Frauen. Quelle: Alfred Lohninger,Herzratenvariabilität: Das HRV-Praxislehrbuch, 2. überarbeitete Aufl. 2021, Seite 264

Medikamente

Medikamente, die erfolgreich zur Behandlung von Long COVID eingesetzt wurden und werden, nämlich Amphetamine, Antiepileptika, Antihistaminika, selektive Serotonin- und selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer, noradrenerge und spezifisch serotonerge Antidepressiva, Stimulanzien und Medikamente gegen M. Parkinson, hemmen die Noradrenalin Wiederaufnahme oder fördern dessen Freisetzung, erhöhen demnach den Sympathikotonus. Oder sie wirken anticholinergisch und senken so den Vagotonus. Jedes eingesetzte Medikament könnte letztlich dazu dienen, die Vagusstarre aufzulösen.
Die Erfüllbarkeit des Wunsches nach einem gut wirksamen Medikament gegen alle Formen von Long COVID zu entdecken, sei er dem Druck Betroffener erwachsen, oder durch die Hoffnung Forschender genährt, wird für Forschende eine große Herausforderung sein.

Therapie

Ein Long COVID bedingtes chronisches Erschöpfungssyndrom folgt naturgemäß anderen Behandlungsprinzipien als ein chronisches Müdigkeitssyndrom. Als bei beiden Formen nicht nur wirksam, sondern vielmehr als unabdingbar erwiesen hat sich das therapeutische Prinzip des Pacing. Es besagt, dass ein schonender Umgang mit den eigenen Ressourcen notwendig und Überlastung strikt zu vermeiden sind. Es gilt die Häufigkeit und Schwere der Rückfälle (»Crashs«) zu minimieren. Je weniger das Pacing beachtet wird und je mehr Patientinnen und Patienten zur Steigerung ihres Aktivitätsniveaus angehalten werden, desto länger die Rückfälle bzw. Crashs. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass sich durch Überlastung der Allgemeinzustand verschlechtert und sich im Folgenden die Lebensqualität der Patientinnen und Patienten weiter einschränkt.

Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen, Charité Berlin, forscht und betreut seit Jahren Patientinnen und Patienten zu Chronischer Erschöpfung.
Sie hat an der Berliner Charité eine Post-Covid-Ambulanz eingerichtet und fasst die Bedeutung des Pacings für die Betroffenen so zusammen: »Jeder muss da seine aktuelle Belastungsgrenze herausfinden und für eine gewisse Zeit drunter bleiben. Wenn man das von Anfang an beherzigt, erhöht das die Chance, dass die Krankheit ausheilt.«

Das Finden der eigenen Grenzen ist mit der My Autonom Health App denkbar einfach. Ein Leistungstest im Rahmen einer 24 Stunden-Messung, also z.B. 30 Minuten, oder auch weniger, so weit als möglich zu laufen oder zu gehen, definiert die persönlichen aktuellen Belastungsniveaus. Diese, u.v.a. die Pulshöhe ab der der Grenzbereich beginnt, liegen oft erstaunlich niedrig. Jedes Überschreiten, selbst bei einer Herzrate von z.B. 105 BpM bei einem jungen, an sich sportlichen Menschen, der von Long COVID betroffen ist, führt quasi schlagartig zum starken Rückgang der Total Power gegenüber dem Tagesschnitt. Wenn man in Folge und mit laufender Unterstützung durch die My Autonom Health App immer unter der eigenen, aktuellen Crash-Grenze zu bleibt, steigt die Wahrscheinlichkeit auf vollständige Heilung deutlich.

Abb. 10: Die Funktionskreise des Autonomen Nervensystems. Quelle: Autonom Health
Abb. 10: Die Funktionskreise des Autonomen Nervensystems. Quelle: Autonom Health

Long Covid Care by Autonom Health

Das, im Kapitel oben beschriebene, von Autonom Health entwickelte Long COVID Care Programm ermöglicht die Zuordnung in die jeweilige Form der Dysautonomie. Die Unterscheidung zwischen Chronischem Erschöpfungs- oder -Ermüdungs-Syndrom ermöglicht differenzierte Therapie-Strategien, die im persönlichen Coaching mit speziell qualifizierten HRV-Professionals in Form eines individuellen Genesungsplans erarbeitet werden. Jour Fixe zur Vermittlung und Diskussion spezifischen Wissens und der Austausch in der Autonom Health Community bieten Betroffenen individuelle Unterstützung und runden das einzigartige Betreuungsprogramm ab.

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