
Wesentliche Grundbedürfnisse des Menschen sind Autonomie, Orientierung und Kontrolle. Für ihn als soziales Wesen sind Bindungen und Beziehungen wichtig. Ihre Einschränkungen geben Menschen das Gefühl, machtlos zu sein. Die Verletzung unserer Grundbedürfnisse bzw. des Gefühls des Kontrollverlustes erzeugen Stress und Anspannung. Früher oder später trifft es alle, ArbeitnehmerInnen ebenso wie Personen in ihrem privaten Umfeld. Wie kann man sich in diesen Zeiten entstressen und entspannen?
Die Lage scheint manchmal ausweglos und nach Monaten der Einschränkungen, gepaart mit den neuen Herausforderungen im Alltag und Berufsleben, stehen wir teils an der gleichen Stelle wie vor einem Jahr. Der Wunsch nach der „alten Normalität“ weicht langsam der Erkenntnis, dass es vielleicht nie wieder so sein wird.
Wir spüren es seit Monaten am eigenen Leib, was zurzeit alles nicht geht:
• Eingeschränkte Alltagsgestaltung (z.B. Arbeit, Schule, Einkaufen, Reisen)
• Angst vor Krankheit, Jobverlust oder finanziellen Problemen
• Fehlende physische Kontakte
• Unklarheit über die Zukunft
Viele Menschen fühlen sich machtlos, weil wir alle mit einer noch nie da gewesenen Situation und ihren Herausforderungen in allen Lebensbereichen konfrontiert sind. Es gibt keine Referenz für den goldenen Lösungsweg aus dieser Krise.
Von Lockdown zu Lockdown: Perspektivenwechsel
Wir alle sind deshalb gefordert, selbst Gestalter und Vorreiter zu sein und somit unsere Zukunft aktiv zu gestalten. Wie wir aus Erfahrung wissen, kann man jede Situation unterschiedlich betrachten. Das passiert ja allein schon, wenn man Zeugen eines Autounfalls hört. Jeder Zeuge beschreibt den gleichen Tatbestand anders.
Wie wäre es also, sich in dieser scheinbar aussichtslosen Situation zu fragen:
Was ist in dieser neuen Situation vielleicht stattdessen möglich bzw. welche neuen Möglichkeiten ergeben sich jetzt?
Der offene Blick auf das, was man jetzt tun kann, ist ein Weg, sich die Kontrolle zurückzuholen. Das wiederum kann eine äußerst positive Wirkung auf die Psyche haben.
Wahrnehmung von Veränderung ist erwiesenermaßen immer abhängig von der eingenommenen Perspektive. Diese kann „sehen“: Chance oder Bedrohung. Sie ist sogar abhängig von der individuellen Prägung und Erfahrung.
Bei großen Veränderungen durchläuft der Mensch eine typische Kurve. Diese lässt sich in vier Phasen aufteilen:
1. Schock,
2. Ablehnung, gefolgt von
3. Trauer, um dann erst in
4. Akzeptanz und Anpassung überzugehen
Bei diesem 4-Phasen-Prozess gibt es keine Abkürzung, nur unterschiedliche Geschwindigkeiten, ihn zu durchlaufen.
Menschen, die in Veränderungen eher die Chancen sehen, also weniger mit Schock, Ablehnung und Trauer kämpfen, können sich viel leichter mit einer völlig neuen Situation arrangieren. Sie bewahren sich über den ganzen Prozess das Gefühl von Kontrolle und Autonomie und entwickeln weitaus schneller neue Handlungsmöglichkeiten.
HRV-Messung nutzen zur Perspektivenänderung
„Langsam werde ich depressiv…“, das ist der Satz, den ich derzeit in Beratungsgesprächen am meisten höre. Im Beratungskontext in Unternehmen erlebe ich zurzeit zwei Dimensionen der Betroffenheit: Zum einen die persönliche der einzelnen Mitarbeiter zum anderen die als Team oder Gruppe.
Wie unterstütze ich in solchen Momenten?
Seit ich HRV-Professional geworden bin, also seit 4 Jahren, nutze ich die HRV-Messung als wirkungsvolles Instrument für die Teammitglieder in allen Hierarchieebenen. Damit kann ich, für sie in eindrucksvoller Weise, Stressoren aufdecken und individuelle Ressourcen und Energiequellen aufzeigen. Die Verbindung mit der Persönlichkeitsanalyse ermöglicht außerdem ein besseres Verständnis der Teamkollegen und der daraus entstehenden Dynamiken.
Im Anschluss erarbeite ich gemeinsam mit den Führungskräften Strategien und ein Bündel an Maßnahmen, um den Teamzusammenhalt zu erhalten und zu stärken. Dabei hat sich herausgestellt, dass man damit gleichzeitig einem Burnout vorbeugen kann.
Zweifler werden nun einwerfen, dass man so etwas sicher nicht, wie heute eigentlich dringend notwendig, digitalisiert, also online durchführen kann. Doch! Auch im virtuellen Setup sind Workshops mit systemischen Leitbildprozessen nicht nur möglich, sondern auch höchst effektiv. Selbstverständlich müssen da erst einmal einige innere Hürden überwunden werden, die es bei der konventionellen Beratung nicht gibt. Aber machbar ist alles. Gerade in diesen Krisenzeiten sagen mir viele meiner Klienten nach der HRV-Messung und der Analyse ihrer sichtbaren, nachvollziehbaren, individuellen Ergebnisse: „Endlich kann ich klarsehen, was mich kaputtmacht und gegensteuern!“ Ich gehe aber noch weiter. Nach meiner Erfahrung ist es gerade in Krisenzeiten essenziell, Teams zusammenzuschweißen sowie im Team und mit Teams eine tragfähige Vision und Mission zu entwickeln. Daraus lässt sich auf für jeden nachvollziehbare Weise Identität, Werte und Kultur ableiten. Den Zusammenhalt und das Unternehmens- oder Abteilungsziel fest vor Augen kann enorm motivieren, auch und gerade, wenn man im Home Office arbeiten muss. Die gleiche Erfahrung habe ich übrigens auch mit Klienten im privaten Bereich als Teil der Burnout-Prävention gemacht. Eine gemeinsam erarbeitete Vision kann viel Kraft geben.

Forderung an das Gesundheitssystem
Diejenigen, die schon zu viel Schaden genommen haben und da nicht mehr allein herausfinden, benötigen dabei fachliche Hilfe. Und genau die muss unser Gesundheitssystem ausreichend anbieten. Das ist leider seit Jahrzehnten nicht geschehen. Jetzt ist der allerletzte Zeitpunkt damit zu beginnen, denn die vernachlässigten Jungen von heute sind die gehandicapten Eltern von morgen. Sie werden ihre Handicaps unweigerlich an die nächste Generation weitergeben. Sie können aber auch die resilienten, krisenerprobten Erwachsenen werden, die fähig und mit Freude an der Kooperation gemeinsam mit den Älteren die nächste Mammutaufgabe der Klimakrise meistern können. Und die brauchen wir dringend, sonst war die Corona-Krise nur ein dezenter Vorgeschmack auf die finale Katastrophe.
Schaffen wir als Menschheit nun den Übergang vom Zeitalter der Konkurrenz zum Zeitalter der Kooperation, sichern wir unser Überleben. Mehr noch: Damit ermöglichen wir eine völlig neue Lebensqualität. Möge dieser Übergang gelingen!

Nicole Tradel
Psychologische Beraterin und Unternehmensberaterin
Als Expertin für Stressmanagement und Burnout Prävention sowie als HRV Professional begleitet sie mit ihrem Unternehmen „Stressburner“ Einzelklienten, aber auch Führungskräfte und Firmen in der betrieblichen Gesundheitsförderung. Ihren Fokus legt sie dabei auf die Stärkung der Erholungsfaktoren und Visionen.
Geboren und aufgewachsen ist sie in Berlin. Später erfolgte ein Umzug nach München, wo sie ihre Ausbildung zur OP-Schwester absolvierte. Sie lebte fünf Jahre mit ihrer Familie in Singapur, bis sie im Jahr 2008 nach Villach zog.
www.stressburner.at
office@stressburner.at