Seit mehr als einem Jahr wird den Menschen nun schon abverlangt, sich zu distanzieren, um eine lebensbedrohliche Infektion zu verhindern. Persönliche Kontakte sollen gemieden und die Wohnung nur in dringenden Fällen verlassen werden. Körperkontakt? Fehlanzeige! Zu gefährlich. Der Autor dieses Artikels ist der österreichische Psychotherapeut und Psychologe Dr. Winfrid Janisch. Einer seiner Arbeitsschwerpunkte liegt auf der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Im Folgenden liefert er besorgniserregende Erkenntnisse zur gegenwärtigen Situation seiner Klienten. Gleichzeitig fordert er Offensivstrategien, um die Resilienz gegenüber der Pandemie und der damit verbundenen Veränderungen der aktuellen Lebensbedingungen zu stärken.
Wir leben seit über einem Jahr in der Vorstellung für andere Menschen eine potentielle Bedrohung und potentiell selbst bedroht zu sein. Das führt im Alltag mitunter zu weniger Blickkontakten. Instinktiv vermeiden viele von uns sogar Blickkontakte. Von denen geht zwar kein Infektionsrisiko aus. Doch wir haben gelernt, dass aus der Begegnung unserer Blicke Nähe entstehen kann und die gilt es ja zu vermeiden.
Was aber ist die Folge solchen Verhaltens? Wir schotten uns ab. Damit unterbrechen wir jedoch die sozialen Feedbackschleifen, die wir so dringend brauchen, um unser inneres Navigationssystem, unsere Gefühlswelt, zu kalibrieren. Bleibt allerdings soziales Feedback aus, sind wir unseren eigenen Fantasien, Ängsten und Trugbildern ausgeliefert. Wir haben dann auch keine Möglichkeit, das eigene Erleben aufgrund authentischer Reaktionen aus unserer Umgebung einzuschätzen, zu verifizieren oder auch zu verwerfen. Dazu braucht es persönliche Begegnung, die virtuell nie im nötigen Ausmaß stattfinden kann. Verkürzt auf einen digitalen Kanal fehlen wichtige nonverbale Bausteine von gelingender Resonanz wie Mimik, Gestik, Körperhaltung, Proxemik, also wie wir räumliche Positionierungen von Personen in unserem Umfeld interpretieren und damit umgehen, usw.
Soziale Verunsicherungsangst als Multiplikator
In persönlicher Begegnung zwischen Menschen geben uns beispielsweise Häufigkeit und Dauer von direktem Blickkontakt Auskunft über Interesse, Anteilnahme und Verständnis unseres Gegenübers. Bei Begegnungen über Videotelefonie z.B. ist es aber unmöglich, der anderen Person in die Augen zu sehen. Blicken wir in die Augen der/des Anderen auf unserem Bildschirm, nimmt unsere Kamera, am Rande des Bildschirms einen anderen Blickwinkel auf. Das wiederum erscheint beim Gegenüber als „Wegschauen“. Blicken wir hingegen direkt in die Kamera, erscheint es unseren GesprächspartnerInnen als direkter Augenkontakt. Wir selbst sehen aber deren Augen ungenau am Rande des Blickfeldes. Dadurch fehlt uns wesentliche Orientierungsinformation.
Da unsere soziale Wahrnehmung jedoch ganz stark auf Analyse solcher Signale beruht, kommt es permanent zu Fehlinformationen und -interpretationen. Das irritiert uns, bringt uns in emotionalen Stress und erzeugt Angst. Die entsteht immer, wenn wir uns in einer Situation erleben, von der wir im Moment glauben, sie nicht meistern zu können und dadurch Schaden erleiden werden. Wie ein Multiplikator verstärkt diese soziale Verunsicherungsangst die zuvor ohnehin schon medial kräftig geschürte Angst vor Infektion, Isolation, Erkrankung und Tod.
Alarmierende Jugendstudien
Wie inzwischen zahlreiche Jugendstudien zu den seelischen Auswirkungen der Pandemie und ihrer Bekämpfungsmaßnahmen sowie deren Folgen zeigen, ist der psychische Impact auf die Gruppe der 6 – 25-jährigen am stärksten. Dabei handelt es sich durchwegs um repräsentative Studien mit mehreren Tausend TeilnehmerInnen (Schabus et al., 2021).
Die Ergebnisse sind alarmierend. Sie zeigen konvergent, dass Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene die heftigsten Folgeschäden erleiden.
55 % leiden unter einer depressiven Symptomatik, 49 % unter Ängsten, 25 % unter Schlafstörung und 16 % haben suizidale Gedanken. Doch das ist noch nicht das Ende der besorgniserregenden Entwicklung.
Für junge Menschen vergeht die Zeit und damit die Möglichkeit, gewisse Reifungsschritte zu machen, unglaublich viel schneller. Der Grund: Es gibt gewisse Zeitfenster, in denen bestimmte Entwicklungsaufgaben optimal gelöst und gelernt werden können. Genau darauf basieren dann die nächsten Entwicklungsschritte.
Wer als Kind wenig Gelegenheit hatte vielfältige motorische Erfahrungen zu sammeln, wie etwa Radfahren, Schwimmen oder Eislaufen zu lernen, tut sich damit als älterer Mensch viel schwerer. Das liegt vermutlich an dem dann deutlich weniger ausgeprägten, intuitiven motorischen Gedächtnis.
Gravierende Auswirkungen auf die Entwicklung
Die zentralen Entwicklungsaufgaben der 6 – 25-jährigen bestehen in der psychosozialen Dimension im Lernen, wie zwischenmenschliche Beziehungen gelingen können, und zwar zunehmend außerhalb der Herkunftsfamilie und selbstgesteuert. Vertiefende Einblicke in diesen Prozess gibt der mehrfach für seine Arbeit ausgezeichnete Neurowissenschaftler, Psychotherapeut und Arzt Joachim Bauer in seinem famosen Buch „Wie wir werden, wer wir sind“.
Dieses Entwicklungsfeld ist den Jungen nun schon viel zu lange versperrt. Das hat gravierende Auswirkungen auf ihre Persönlichkeitsentwicklung. Wie gravierend sie sind, lässt sich erahnen, wenn wir uns ein 5-jähriges Kind vorstellen, das 1 Jahr unter Lockdown-Bedingungen leben muss. Das ist ein Fünftel seiner Lebenszeit, bei einer 50-jährigen Person würde das 10 Jahren entsprechen, bei einer 75-jährigen gar 15 Jahren.
Die Entwicklungsgeschwindigkeit ist hingegen in den frühen Jahren ein Vielfaches gegenüber jener in reiferen. Dementsprechend sind auch die Folgen heftiger, wenn da die Entwicklungsmöglichkeiten eingeschränkt werden.
Wie soll ein junger Mensch mit 14 sich selbst in der (sozialen) Welt erproben, herausfinden wer er/sie ist und wie sie/er bei den anderen Gleichaltrigen ankommt, inklusive dem anderen Geschlecht, wenn die Begegnungsmöglichkeiten im Sinne (neuer) Kontakte fast gleich null sind? Der erste Kuss, die erste Liebe, der erste Liebeskummer, … mangels Gelegenheit leider verschoben. Vielleicht dann mit 15 oder auch erst mit 16.
Fast die Hälfte der TeilnehmerInnen einer österreichischen Studie meint, dass mit einer Rückkehr zur Normalität erst im Jahr 2022 oder noch später zu rechnen ist. Das ist Ausdruck einer alarmierenden Perspektivenlosigkeit und Ohnmacht (Schabus et al., 2021).
Offensiv- statt Defensivstrategien
Die bisher fast ausschließlich auf Defensivstrategien aufbauenden Empfehlungen und Verordnungen brauchen schon längst ein Gegenstück der Offensivstrategien. Diese müssten darauf abzielen, was wir alle tun können, um unsere Resilienz gegenüber der Pandemie und den damit verbundenen Veränderungen unserer aktuellen Lebensbedingungen zu stärken.
In diesem Zusammenhang sei auf die zahlreichen Initiativen aus Kultur- Sport- und Jugendarbeit verwiesen. Diese fordern schon lange und sind dafür bereit, ihre Begegnungs- und Erfahrungsräume unter gesicherten Bedingungen zu öffnen.
Welche Form der Ernährung, der Bewegung und des kreativen Ausdrucks unsere Immunabwehr stärken können und wie zutiefst menschliche Bedürfnisse nach persönlicher Begegnung trotz widriger Umstände erfüllt werden können, muss ebenfalls Thema im öffentlichen Diskurs werden.
Das belegen auch weitere Studienergebnisse. Die TeilnehmerInnen wurden gefragt, was am ehesten hilft, gut durch diese Krise zu kommen. Am häufigsten nannten sie: Zeit in der Natur zu verbringen (76 %), Sport und Bewegung (72 %) sowie Angehörige oder Freunde persönlich zu treffen (68 %).
Die Menschen spüren also sehr gut, was sie brauchen, um die Krise möglichst heil zu überstehen. Raus aus der Defensive, aus der Daueralarmstimmung, aus der Ohnmacht und rein in die offensive Gestaltung des eigenen Lebens mit persönlichen Begegnungen, so gut das eben gerade geht. Zur Inspiration für alle sollte die geballte mediale Aufmerksamkeit auf gelingende, persönliche Begegnungsräume und Erfahrungsaustausch gelenkt werden.
Junge Menschen können dabei ihr gesamtes kreatives Potential entfalten. Sie brauchen lediglich die geeigneten Begegnungsräume dafür.
Forderung an das Gesundheitssystem
Diejenigen, die schon zu viel Schaden genommen haben und da nicht mehr allein herausfinden, benötigen dabei fachliche Hilfe. Und genau die muss unser Gesundheitssystem ausreichend anbieten. Das ist leider seit Jahrzehnten nicht geschehen. Jetzt ist der allerletzte Zeitpunkt damit zu beginnen, denn die vernachlässigten Jungen von heute sind die gehandicapten Eltern von morgen. Sie werden ihre Handicaps unweigerlich an die nächste Generation weitergeben. Sie können aber auch die resilienten, krisenerprobten Erwachsenen werden, die fähig und mit Freude an der Kooperation gemeinsam mit den Älteren die nächste Mammutaufgabe der Klimakrise meistern können. Und die brauchen wir dringend, sonst war die Corona-Krise nur ein dezenter Vorgeschmack auf die finale Katastrophe.
Schaffen wir als Menschheit nun den Übergang vom Zeitalter der Konkurrenz zum Zeitalter der Kooperation, sichern wir unser Überleben.
Mehr noch: Damit ermöglichen wir eine völlig neue Lebensqualität. Möge dieser Übergang gelingen!
Dr. Winfrid Janisch
Psychologe und Psychotherapeut mit eigener Praxis in Mödling, Niederösterreich
Mödling, 15 km südlich von Wien
Mail: janisch@mip.co.at
Quellen:
„Im Rahmen der Online-Umfrage ‚Jetzt sprichst du‘ haben Manuel Schabus und sein Team vom Zentrum für Kognitive Neurowissenschaften der Universität Salzburg Kinder und Jugendliche über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf ihr Leben und Wohlbefinden befragt.“
„Schlafstörungen von Kindern und Jugendlichen stark gestiegen“, Mensch / APA / 26.03.2021, Zugriff 10:27
https://science.apa.at/power-search/4815384734757860196
s. auch: https://www.focus.de/corona-virus/massive-probleme-fuer-kinder-und-jugendliche-das-schlimmste-kommt-erst-noch-psychologe-warnt-vor-jahrelangen-lockdown-folgen_id_13092846.html
s. auch „Psychische Gesundheit verschlechtert sich weiter“ eine vom österreichischen Bundesverband für Psychotherapie <ÖBVP> durchgeführte Studie an der Donau-Universität Krems unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Christoph Pieh zu den Auswirkungen der COVID 19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Bevölkerung (1.500 TeilnehmerInnen)
https://www.donau-uni.ac.at/de/aktuelles/news/2021/psychische-gesundheit-verschlechtert-sich-weiter0.html , 21.01.2021
Joachim Bauer. Wie wir werden, wer wir sind: Die Entstehung des menschlichen Selbst durch Resonanz. Blessing, 2019.
Studie der Universität Salzburg, Leiter Univ.-Prof. Manuel Schabus et.al „Wissen und Einstellungen zu Corona“ 2021 (3.600 Erwachsene)
http://www.sleepscience.at/?page_id=257&lang=de
Ebd.